Montag, 7. Oktober 2013

Mehr als 1000 Tote seit Juli bereiten in Ägypten den Boden für Terror und dauerhaften Konflikt

Mehr als 50 Menschen sind bei Kundgebungen am 6. Oktober, dem ägyptischen Nationalfeiertag, im ganzen Land getötet worden. Mehr als 200 Personen wurden verletzt, zudem wurden mehr als 400 mutmaßliche Anhänger der Muslimbrüderschaft festgenommen. Das Vorgehen der ägyptischen Sicherheitskräfte in den vergangenen Wochen und das Schweigen der internationalen Gemeinschaft könnte sich dabei in Zukunft bitter rächen. Wobei der Konjunktiv in diesem Zusammenhang zu zurückhaltend erscheint. 



Die Absetzung des gewählten Präsidenten Mohammed Mursi durch die Armee wurde allgemein begrüßt und mit seinem "undemokratischen" Verhalten begründet. Mursi stand dabei von Anfang an unter besonders kritischer Beobachtung. Daran ist nichts zu auszusetzen. Doch offenbar werden nun zweierlei Maß angelegt, wenn die mehr als 1000 Toten kaum thematisiert und das Vorgehen der Armee nur zaghaft kritisiert werden.

Abgesehen von dem merkwürdigen Umgang mit einem an die Macht geputschten Militärregime, stellt sich vor allem die Frage, ob die politischen Akteure, aber auch die zahlreichen Experten in Medien und Ministerien, das tatsächliche Ausmaß der derzeitigen Krise begreifen wollen. Neben den mehr als 1000 Toten, wurde die Muslimbruderschaft Ende September verboten und bis zu 8.000 ihrer Anhänger inhaftiert. Martin Gehlen warnte auf ZEIT Online in einem der wenigen Artikel überregionaler Medien:
Keiner will dabei begreifen, dass man nicht ein Viertel der Bevölkerung pauschal zu Terroristen abstempeln kann. Das gefährdet jede Aussöhnung zwischen den politischen Lagern. Das befeuert weiter die schon jetzt hochgefährliche Polarisierung. Und das kann enden in einer nicht mehr kontrollierbaren Spirale der Gewalt. 
Das wird es, sollte die Armee ihr Vorgehen nicht ändern. Doch die ist an einem Dialog mit den Muslimbrüdern nicht interessiert. Im Gegenteil, Human Rights Watch (HRW) kommt zu dem Schluss, dass die Gewalt nicht nur gezielt, sondern auch bewusst exzessiv eingesetzt wird:
Presumably in 2011, the army was trying to avert such violence when the generals decided not to storm the tens of thousands of protesters in Tahrir Square but, instead, deposed Mubarak and claimed to set Egypt on a democratic transition. What changed? One element was many Egyptians’ accumulated resentments and fears under Muslim Brotherhood rule. Another may be the ambitions of the military generals. One thing is clear: Egypt has consistently failed to take human rights seriously.
Diese anhaltenden Menschenrechtsverletzungen werden Folgen haben. Welche, das sagte der Mainzer Geschichtsprofessor Günter Meyer dem Schweizer Tagesanzeiger:
Die Gefahr wäre sehr gross, dass gerade die militanten Anhänger in den Untergrund gehen würden. Und sie würden mit gewalttätigen Aktionen versuchen, den ägyptischen Staat zu destabilisieren. Dieses Phänomen gab es bereits in den 1990-er Jahren. Radikale Kräfte verübten damals Anschläge gegen Sicherheitskräfte und Morde an Touristen. Das waren aber relativ kleine Gruppierungen, die weniger Rückhalt in der Bevölkerung hatten als die Muslimbrüder heute. Nach dem Tod von 800 ihrer Märtyrer, wie sie selbst sagen, erfahren die Muslimbrüder erhebliche Solidarität aus der Bevölkerung. Ein Verbot würde zu einer Radikalisierung eines beachtlichen Teils der Mitglieder und Anhänger der Muslimbrüder führen.
Zahlreiche Experten stützen die These einer erneuten Radikalisierung. Dabei betont Meyer, dass internationaler Druck ein dauerhaftes Verbot verhindern und die Lage entspannen könnte. Ein solches Verbot hatte nicht nur in den 1990er Jahren gewaltsame Auswirkungen. Schon kurz nach ihrer Gründung war die Muslimbruderschaft Repressionen ausgesetzt. Dies lag einerseits an den radikalen und gewaltbereiten Teilen der Gruppe, aber auch an der jeweiligen Regimestrategie potentielle politische Konkurrenz auszuschalten bzw. zu kontrollieren. So sahen sich die Muslimbrüder immer wieder Verhaftungswellen gegenüber, welche extremistische Ansichten und Flügel stärkte.

Schon im Juli, kurz nach der Absetzung Mursis, gab es Stimmen, die vor der Rückkehr zu diesem Umgang warnten. So sagte die Politikwissenschaftlerin Annette Ranko in einem Interview:
In der jetzigen Situation – nach der Absetzung Mursis – hängt viel davon ab, wie sich das Militär verhalten wird. Sollte den Muslimbrüdern nun der politische Zugang verwehrt werden, besteht langfristig gesehen die Gefahr, dass sich Teile der Gruppe radikalisieren und zu den Waffen greifen, um ihren Überzeugungen Ausdruck zu verleihen. 
Das Vorgehen des Militärregimes sollte dabei nicht als fehlerhaftes Verhalten oder Überforderung verstanden werden, wie schon die HRW-Zitate nahe legen. Denn es gibt Hinweise, dass die Führung bewusst auf eine Eskalation des Konflikts setzt, wie der ägyptische Journalist Karim al-Ghawary schreibt:
Immer wenn das Regime Mubarak in der Ecke stand, brannte als Ablenkungsmanöver irgendwo im Land eine Kirche. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die Staatssicherheit wieder mit den altbewährten Methoden arbeitet, schließlich sind es immer noch die gleichen Staatssicherheitsoffiziere.

Dem Bündnis von Militärs und alten Mubarak-Seilschaften, vor allem im Sicherheitsapparat, muss es nun darum gehen, die Muslimbruderschaft weiter politisch zu isolieren. Eine Radikalisierung der Islamisten ist da in diesen Kreisen eine durchaus wünschenswerte Entwicklung. Denn damit meint der Sicherheitsapparat besser umgehen zu können als mit Demonstrationen und Protestlagern.
Eine von zahlreichen Seiten befeuerte Radikalisierung stellt auch ein aktueller Zenith-Artikel fest:
Die Gleichsetzung aller Muslimbrüder mit Terroristen, die Vergötterung des Militärs als Retter des Staates, die Notwenigkeit der Bekämpfung dieser Terroristen mit Waffengewalt – im Fernsehen wird das untermalt mit regelmäßigen Werbespots, die Szenen gewalttätiger Muslimbrüder mit dramatischer Musik unterlegt zeigen, oder die »normale« Ägypterinnen und Ägypter im In- und Ausland erklären lassen, dass es sich nicht um einen Militärputsch handelte und sie dem Militär für den Schutz vor den Terroristen danken. Nicht zu vergessen, die auf allen Kanälen geschalteten Banner »Ägypten bekämpft den Terrorismus«.

Das heizt die Stimmung weiter an. Bärtige Männer – mit oder ohne Sympathien für die Muslimbrüder – leben derzeit gefährlich, nicht selten werden sie angesprochen, beschimpft oder angegriffen. Diejenigen, die die aktuellen Menschenrechtsverletzungen oder Militärtribunale kritisieren, werden durch die laute Propaganda oft übertönt. Die Aktivistengruppen, die sich gegen das Militär und gegen die Muslimbrüder positionieren, haben ihre führenden Köpfe verloren. Mohamed El Baradei ist von der Bildfläche verschwunden, viele Aktivisten haben sich der einen oder der anderen Seite angeschlossen. 
Um einen Bürgerkrieg oder terroristische Aktionen zu verhindern, ist ein Dialog unumgehbar. Vermutlich wäre die bloße Stützung Mursis keine Lösung gewesen, dazu war der Widerstand in der Bevölkerung offensichtlich zu groß. Doch das derzeitige Schweigen der internationalen Gemeinschaft und die Abwesenheit von Druck (welchen vor allem die USA mit einer Kürzung der Militärhilfe ausüben könnten) auf das Regime, das mit dem Verweis auf extremistische Islamisten Menschenrechtsverletzungen jeglicher Ausprägung rechtfertigt, werden sich deutlich bemerkbar machen.

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