Freitag, 23. November 2012

Ägyptens Präsident unter medialem Beschuss: Plötzlich ist es also Winter

Nachdem jeder Nachrichtenkonsument im vergangenen Jahr das Gefühl haben konnte, nicht nur Zeuge einer ägyptischen Revolution, sondern quasi selbst Teil davon zu sein (mit Hilfe von 24h-Liveblogs, Twitterstreams, Endlosreportagen vom Tahrir-Platz), soll aus dem ägyptischen Frühling also nun Winter geworden sein.

Schuld daran ist laut allgemeinem Medientenor der ägyptische Staatspräsident Mohamed Mursi. "Muslimbruder", "Islamist", die Labels sind vielfältig, laufen aber auf dasselbe hinaus. Wurde die Vermittlung bei der Gaza-Krise noch kurzzeitig gelobt, so rufen die jüngsten Erlasse allerorten Kritiker auf den Plan.


Demonstranten Ende Januar 2011 auf dem Tahrir-Platz: folgt man den großen Medien ist der arabische Frühling in Ägypten mittlerweile zum bitterkalten, islamistischen Winter geworden - Quelle: Ramy Raoof

Zu Recht, denn vereinbar mit einem demokratischen Staatsgebaren sind diese nicht. Auch die UN meldete schon Bedenken an. Doch SPIEGEL Online in Person von Ulrike Putz titelt: "Der neue Pharao" und schreibt von einem "Coup". 

Dabei wäre es angemessen diesen Staat in der Transformation zwar kritisch, aber ohne die westlichen Schablonen der "Islamisierung" und des "islamistischen Herrschers" zu betrachten und Mursi sofort als Diktator darzustellen. Denn Mursi gewann eine Wahl, bei der immer die Gefahr bestand, dass das Militär daran rütteln wird. Eine Wahl, die viele Interessen zu berücksichtigen hatte.

Offensichtlich ist dies noch nicht gelungen. Wirtschaftliche und soziale Probleme haben nach Meinung von Beobachtern zugenommen, auf den ägyptischen Frühling folgte sozusagen ein kurzer Sommer. Doch war es naiv, etwas anderes zu erwarten. Nun Mursi als einen neuen Mubarak zu beschreiben wird der Situation nicht gerecht.

Ägypten benötigt Reformen allerorten, besonders dringend im Bereich der Justiz. Ägypten täte gut daran, die alte Machtkaste tatsächlich aus wichtigen Ämtern zu entfernen und das Macht des Militärs zu beschränken. Der ägyptische Direktor von Human Rights Watch unterstreicht dies. Allerdings seien die nun erlassenen Reformen nicht der richtige Weg. Zudem gibt es auch zahlreiche politische Interessen, die darin Niederschlag finden. Thomas Pany auf telepolis.de :

Doch ganz so einfach, wie dies auf den ersten Blick aussieht, ist die Angelegenheit nicht. Das Verfassungsgericht hatte sich mit einer Frage beschäftigt, die auch andere Verfassungsgerichte beschäftigen würde: Ob eine Wahl rechtlich zu akzeptieren ist, wenn Parteimitglieder sich auch auf einer Liste zur Wahl stellen dürfen, die mit Absicht für Unabhängige freigehalten wurde, um eine Vielfalt zu garantieren und eine Art Schutzzone gegenüber etablierten Parteien.
Der Vorwurf des Verfassungsgerichts lautete, dass Mitglieder der Partei der Muslimbrüder, der Partei für Gerechtigkeit und Freiheit, dies getan haben und somit eine größere Mehrheit erhielten. Diese Parlamentsmehrheit hatte dann auch Auswirkungen auf die Besetzung der verfassungsgebenden Versammlung, weswegen auch das zweite Organ ins Visier des Verfassungsgerichts geriet.
[...]
Interessant und bislang nicht bekannt ist, wie sich die Armeeführung gegenüber dem neuen Machtmanöver Mursis stellt. Ist die Hinterzimmer-Vereinbarung, die Mursi mit dem SCAF vor einiger Zeit auf getroffen hat, als er Schlagzeilen mit der Entmachtung des früheren starken Mannes Tantawi machte, so stark, dass die Führung im Hintergrund bleibt und seine Kreise nicht stören will, im guten Wissen, dass die eigenen Wirk-und Geschäftskreise unangetastet bleiben?
Der letzte Absatz ist allerdings reine Spekulation und ersteinmal nicht einfach zu beantworten. Doch in den meisten Medien ist die Wertung des Geschehens klar und eindeutig und geht zu Lasten des Staatsoberhaupts. Zusammen mit seinem Hintergrund als Muslimbruder wird daraus schnell das Bild des radikalen Alleinherrschers. 

Problematisch in diesem Zusammenhang ist auch, dass mit Hilfe von Experten kein differenziertes Bild geliefert wird. So sagte die Politologin Hoda Salah, die an der Freien Universität Berlin lehrt, in einem Interview mit dem Deutschlandfunk:
Frage: Das heißt, wenn ich Sie richtig verstehe, Frau Salah, sagen Sie, dass auch die neue ägyptische Regierung der Muslimbrüder durch das Amt, durch die Verantwortung, durch die internationalen Zwänge im Prinzip intern und in der Außenpolitik so weitermachen wie die alte Regierung Mubarak?
Antwort: Genau, und das ist meine große Kritik, weil natürlich, auf jeden Fall ich bin auch dafür: Die Sicherheit Israels muss garantiert werden, der Friedensvertrag muss versichert werden und so weiter. Aber das ist leider auf Kosten der Bevölkerung auch wieder in der Innenpolitik.
Sie spricht weiter von fehlender Legitimation, Gewalt gegen Demonstranten und dem Versuch die Macht der Muslimbrüder über die Grenzen Ägyptens hinaus auszubauen. Es ist nachzuvollziehen, dass aufgrund der immer wieder aufflammenden Gewalt und der zögerlichen und immer wieder von Rückschlägen gezeichneten Entwicklung hin zu einem demokratischen Staat Kritik aufflammt. 

Salah war Mitte der 1990er-Jahre Beraterin der "Mubarak-Kohl-Initiative" und forscht vor allem zu Themen des Islamismus. Dies disqualifiziert sie nicht für eine Meinungsäußerung, aber macht sie auch nicht stellvertretend zur Stimme aller Ägypter. Abweichende Meinungen gibt es in der allgemeinen Medienlandschaft allerdings kaum.

Dabei gäbe es auch zu berichten, dass Mursi für einen Dialog zwischen den Religionen eintritt, der so gar nicht zum Image des Muslimbruders passen will. Nun lässt sich sagen, dass dies Syriens Präsident Assad ebenfalls zur Staatsdoktrin erhoben hatte und dies zunächst kein Ausweis einer besonderen demokratischen Gesinnung sei. Doch Mursi ist im Gegensatz zu Assad demokratisch gewählt. 

Dass das Verständnis von Regierungs- und Staatsführung teilweise noch sehr "traditionell" geblieben ist, zeigt ein Artikel des libanesischen Daily Star, zur Neuregelung der Öffnungszeiten von Geschäften. Durch eine staatlich verordnete Verkürzung soll Energie gespart werden:
They clearly have no trust in the public’s intelligence or ability to cooperate, and the feeling is all too mutual. This ruling demonstrates a familiar mentality, whereby the state treats citizens not as partners in solving a problem, but as the problem itself. And there’s little doubt how Egyptians will respond to being cast, yet again, as juvenile delinquents. They’ll do what they’ve always done: ignore it and take the consequences.
Dies wird also kaum funktionieren. Entscheidend wird aber sein, ob die neue Regierung lernfähig ist und vor allem, ob die nun erlassenen Dekrete und Gesetze genutzt werden, um die unsichere Phase des Übergangs zu gestalten, oder nur die eigene Macht zu sichern. Dies wird sich spätestens bei der nächsten Wahl zeigen. Bis dahin ist ein kritischer Blick angebracht. Ein Artikel auf The Arabist.net konstatiert:
But whatever the desirability of elements of these decisions, today’s overall message might be summed up: “I, Morsi, am all powerful. And in my first act as being all powerful, I declare myself more powerful still. But don’t worry—it’s just for a little while.”
What could stop him in the short term? Morsi has over-reached before (such as the first time he tried to rid himself of the prosecutor general). And his August bid for power worked in part because he used the power he assumed in such a restrained manner (until today, that is).
This time, ambitious and assertive courts could tell him no. Various political non-Islamist forces could line up against him. Neutral institutions and professional associations could cry foul. But only if they do so in unison, are they likely to be able to force Morsi to back down or to find a way to temper his power. And there is no easy venue for them to carry out their struggle. Those who oppose these moves need not only unity but a strategy. And that has never been their strong suit.
And if they do fail, then Egypt’s best hope for democracy may be a Morsi metamorphasis into an Egyptian Cincinnatus. Perhaps he will use his authority to protect a process that will build a functioning democratic and pluralistic system. That is not impossible. But it’s an odd way to build a democracy.
Deutliche Kritik, aber eben auch die Einsicht, dass diese Transformationsphase keine leichte sein wird, kennzeichnen diesen Artikel. Die vorschnellen Urteile der hiesigen Medien über die ägyptische Innenpolitik und die vielen Warnrufe vor der Islamisierung und Radikalisierung zeugen dagegen von der gleichen Naivität und stereotypischen Sicht, die das Regime Hosni Mubaraks jahrzehntelang mit ermöglicht hat.

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